Der Mensch verlangt nach Wahrheit zur Gesundung von Geist und Psyche
Der Psychoanalytiker Sigmund Freud erwähnt in einer seiner Schriften das „Unbehagen in der Kultur“. Dieses „Unbehagen“ soll im Folgenden näher erläutert werden, da es die Religion, insbesondere das christliche Denken, maßgeblich beeinflusst hat. Falsch interpretierte, religiöse Vorstellungen können zur Quelle menschlichen Leids werden, insbesondere dann, wenn dabei etwas abverlangt wird, das den Einzelnen in seiner persönlichen Freiheit einschränkt.
Das Unbehagen äußert sich auf vielfältige Weise. Sigmund Freud behauptet zu Recht in seiner Traum-Theorie, dass Träume mit der persönlichen Lebensgeschichte oft in engem Zusammenhang stehen. Die Traumbilder spiegeln den Betroffenen bedrückende Bilder, die oftmals ein Hilferuf an die eigene Seele sind, die nach Befreiung verlangt.
Von Anfang an ist dem Menschen ein gesundes und glückliches Leben zugedacht. Das gilt für jedermann, ob mit oder ohne christliche Gesinnung. Die vielen Heilungen, die Jesus von Nazareth zu Lebzeiten bewirkte, bestärken diese Überlegungen. Das Unbehagen, von dem Freud gesprochen hat, war Jesus nicht fremd. Heute wissen wir um die psychosomatischen Erkrankungen infolge seelischer Belastungen, beispielsweise durch den moralischen Zwang, den unwissende Erzieher heutzutage teilweise ausüben. Im Gegensatz dazu steht die Empathie Jesu.
Folgende Beispiele zeigen, wie das „Unbehagen“ (Freud) zu verstehen ist. Die Folgen jahrelanger verletzender Erniedrigungen werden deutlich dargelegt im Bericht von einer „gekrümmten Frau“ (Neues Testament). Der hier wichtige Textteil lautet: „Und siehe, ein Weib war da, und sie war krumm und konnte nicht wohl Aufsehen.“ (Lukas 13,11) Schon beim Anblick dieser Frau dürfte Jesus die gesamte Biografie dieser von Kindheit an, unterdrückten Person vor sich gesehen haben. Er heilte diese Frau. Dem historischen Text entsprechend hatte diese achtzehn Jahre im Umfeld oberster Gesetzeslehrer gelebt. Man kann erahnen, dass sie niemals die Würde einer Frau erfahren durfte.
Um aus dem Gefängnis psychischer Enge herauszukommen, bedarf es verständnisvoller Gespräche mit erfahrenen Psychotherapeuten. Betroffenen Personen ist anzuraten, extrem christlichen Gruppierungen zu meiden. Es gilt eine befreiende Perspektive zu vermitteln. Nur dann kann ein Selbstheilungsprozess in Gang kommen. Oft haben Betroffene das Bedürfnis, sich von anerzogenen Zwängen und von falscher Unterwürfigkeit zu befreien.
Dies lässt sich auch aus den Lebensgeschichten der beiden Dichter Friedrich Hölderlin und Hermann Hesse herauslesen. Hölderlin wurde von seiner Mutter, in seinem Freiheitsdenken nie verstanden. Das hatte zur Folge, dass er letztendlich den Kontakt zu seiner Mutter aufgab. Auch der fünfzehnjährige Hesse wurde nicht verstanden, er schrieb an seine Eltern: „Wenn Ihr mir schreiben wollt, bitte nicht wieder Euren Christus. ‚Er wird hier genug an die große Glocke gehängt.‘…“ Aus diesem unüberhörbaren Aufschrei geht hervor, dass er des schwärmerischen frommen Geschwafels überdrüssig war. Er wollte verstanden werden. Sein Brief an die Mutter war ein verzweifelter Hilferuf. In jener Zeit brachte man den jungen Hesse in verschiedene Heilanstalten, die jedoch alle pietistisch orientiert waren und deswegen keine Hilfe bieten konnten. Man hielt ihn für geisteskrank, in Wirklichkeit litt er unter den Folgen des Pietismus, der ihn in die schwere Depression getrieben hatte.
Wie wichtig es sein kann, sich aus realitätsfremdem schwärmerischem Umfeld sich lösen, zeigt hier ein anschaulicher Heilungsprozess einer Person, die jahrelang in einem engherzigen Schwärmerischen Umfeld gelebte hatte. Sie hatte das Glück, in ein gutes Umfeld zu gelangen, das in krassem Gegensatz zum vorherigen stand. Nach Freuds Lehre (Drei-Stufen-Modell) dauert solch ein Heilungsprozess über längere Zeiträume. In diesem Traum ist ein Pferd das Symbol für die geschädigte Seele. Der erste Traum zeigt ein zerstückeltes Pferd in einem düsteren Kellerraum. Später folgten weitere Träume. Nach einer psychotherapeutischen Behandlung begann der Heilungsprozess. Um die Schwere der Erkrankung deutlich zu machen, sollte man erwähnen, dass dem Pferd in der Mythologie eine besondere Bedeutung zukommt: Das Pferd gilt als Symbol von Kraft und Stärke. Dieses Symbol war im vorher beschriebenen Traumbild völlig zerstört gewesen. Im zweiten Traum war ein neugeborenes im Stroh liegendes Fohlen zu erkennen. Dieser Traum verweist gewissermaßen auf den Heilungsprozess. Dies zeigt deutlich: Es beginnt neues Leben! Im dritten Traumbild kommt die Heilung noch deutlicher zum Ausdruck: Die träumende Person sah sich stolz und selbstbewusst auf einem Pferd mit wehender Fahne in der Hand. Sie galoppierte über die Felder. Auch die Fahne darf als Symbol gewertet werden: Sportlich mit gesundem Selbstbewusstsein geht die geheilte Person aus ihrer krankmachenden Umgebung heraus. Aus dem engherzigen Milieu hatte sie sich endgültig gelöst.
Die Gedanken zweier Gelehrten bestätigen wie wichtig die Freude im Leben des Menschen sei. Der Mönch Meister Eckhart (1260 – 1327) und der Sozialphilosophen Erich Fromm (1900-1980). Beide Gelehrte vertreten die Auffassung, dass die Freude aus religiöser Sicht oftmals zu kurz kommt, obwohl sie von sehr wichtiger Bedeutung für das menschliche Dasein ist. Nach Erich Fromm ist die Freude „der Übergang von geringerer zu größerer Vollkommenheit des Menschen“.
Ich fasse zusammen: Falsch verstandene Frömmigkeit kann zum Nährboden krankmachender Neurosen werden. Um zur Quelle lebendiger Spiritualität zu gelangen, muss man sich von destruktiven Lehren trennen. Christlicher Glaube sollte selbstbestimmt sein, er unterwirft sich nicht einer Lehre oder Autorität. Er muss überprüfbar sein durch den gesunden und gereiften Menschenverstand infolge Bildung und Lebenserfahrung. Naives Für-Wahr-Halten ist unangebracht. In diesem Zusammenhang ist der Ausspruch von Immanuel Kant zu verstehen: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ In Diesem Zusammenhang darf man wohl auch das Bemühen um den Synodalen Weg in der katholischen Kirche verstehen.
Wie wichtig eine lebensbejahende Exegese ist, zeigt die oben tragisch geschilderte Lebensgeschichte. Der Vollständigkeit halber müssen hier auch die Missbrauchsfälle aus beiden Kirchen genannt werden. Die Folgen sind nicht allein pauschal unter einer falsch verstandenen Sexualmoral zu sehen. Genauso wenig können die vielen Kirchenaustritte in beiden Kirchen pauschal gewertet werden. Hinter jedem Austritt steht sicher eine längere ernsthafte Überlegung und sicher auch die langanhaltende allgemeine Unzufriedenheit. Beide Kirchen stehen vor der Aufgabe, sich zum Wohle der Menschen zu verändern.
Reinhold Armbruster-Mayer, in Zusammenarbeit mit Manfred Krätzschmar
Ulm, 7. Oktober 2024